Sonntag, 18. März 2012

Der Gott hat sich den Hals gebrochen

Am Freitag einen mühseligen Trip (Tram - U-Bahn - Bahnhofwarterei - Zug - Bahnhofwarterei - Bimmelbahn - Fußmarsch - Bus) heimwärts gemacht und das hier auf meinem Schreibtisch gefunden: 
Aaawwww, Mama! Wunderschön, nicht?

Überhaupt war das Wochenende sehr sprießend im Sinne von kreativ. Wir haben den Garten aufgeräumt, Beete befreit und neu angelegt, weitere Pflänzchen gesetzt, und sind dann in der unverschämt goldwarm scheinen Frühlingssonne in den remobilisierten Gartenstühlen gesessen, haben Kaffee getrunken und Haselnuss-Johannisbeer-Kuchen gemampft, während allüberall die Vöglein zwitscherten. Diesen vegetativ-grünen Impetus hab ich gleich weitergetragen und, angeregt durch Amalas Streichholzschachtelschrein, das Reisekästchen für meine Votivfigürchen zu einem Reisealtärchen ausgebaut:
Da wird allerdings jetzt nur die Dame drin transportiert. Warum? Der Gott hat sich den Hals gebrochen. Nein, ehrlich. Beim letzten Transport von München heimwärts konnte ich die Göttin unversehrt aufstellen, während die Gottfigur keinen Kopf mehr hatte - am Genick glatt abgebrochen, obwohl sein Specksteinnacken viel massiver war als der der Dame. Irgendwie erscheint es mir nicht angebracht, den Kopf einfach wieder mit Pattex dranzubappen und so zu tun, als wär das nichts; ich neige dazu, solchen Vorkommnissen Bedeutung beizumessen. Jetzt denke ich also gelegentlich darüber nach, was männliche Idole in meinem Leben eigentlich für eine Rolle spielen und ob sie das überhaupt müssen. Nachdem ich mich für die aktuelle Seminararbeit wirklich anstrengen musste, auch mal etwas Fachliteratur von einer Frau aufzutreiben. Nachdem ich auf ein Berufsfeld hinarbeite,  das im wesentlichen von narzisstischen, machtbesessenen oder zumindest neurotischen Männerfiguren geprägt ist. Und so weiter und so fort. 
Ganz hat sich das y-Chromosom allerdings nicht aus dem Spirituellen verabschiedet, was man nicht nur am stolzen Hirschen sieht, der für mich einfach dazugehört, sondern auch noch an den drei Gesellen nebenan:
Das sind die sog. Genii Cucullati, zu deutsch in etwa 'Kapuzengeister'. Wie immer klingt das englische hooded spirits deutlich tiefgründiger (wenn es etwas gibt, um das man die Angelsachsen beneiden kann, ist es ihre hochgradig das Lateinische ehrende Sprache, die im Gegensatz zum Deutschen einen sehr feinen aber gewinnenden Unterschied macht zwischen ghost und spirit). Der Name leitet sich vom Reisemantel mit Kapuze (gall. cuculla) ab, der ein typisch gallisches Kleidungsstück war und von dort aus Bestandteil der Ausrüstung der römischen Infanterie wurde. Die Genii Cucullati sind ein Geister-Kollektiv; sie erscheinen stets mindestens zu dritt auf Votivsteinen als kleinwüchsige Männer, manchmal mit Schwertern oder auch Eiern als Requisit, bisweilen als Begleiter keltischer Gottheiten. Man geht davon aus, dass sie Schutzgeister der Reisewege waren, aber auch Helfer in der Not, die immer bereitstanden, um zu Hilfe zu eilen. Fundorte liegen nicht nur bei Heilquellen im Rheingebiet (die Wellness-Spas der Antike), in Österreich und Ungarn, sondern auch entlang des Hadrianswalls, weswegen man annimmt, dass sie auch als Kriegshelfer angerufen wurden. Mir persönlich erscheint es aber wahrscheinlicher, dass diese Votivsteine von Reisenden gestiftet wurden, die den Wall (nicht nur von römischer, sondern auch piktischer Seite her) sicher erreicht hatten und dafür den Kapuzengeistern einfach zum Dank einen Bildstein aufstellen ließen. Man diskutiert darüber, ob die Genii Cucullati mit den markanten Zipfelmützen teilweise eingegangen sind in heute noch bekannte kulturfolgende Wesenheiten, etwa Heinzelmännchen - oder auch Gartenzwerge. Wer sich also das nächste Mal über Nachbar Biedermeiers kleine Kollektion im Vorgarten beschwert, gedenke vorher feierlich der langen Traditionen, die die Zipfelmütze als Signum der schützenden Wesenheiten innehat. ;-) Ich habe gute Erfahrungen mit ihnen auf langwierigen Zugreisen (etwa um innnerhalb von zwei Minuten vor Zugabfahrt ein Bayernticket zu organisieren) und den jetzt wieder machbaren Fahrradtouren über Land gemacht; sie sind ungemein freundlich und witzig und freuen sich, wenn man bei der Pause an einer Wegkreuzung oder unter einem Marterl einen Keks oder so zurücklässt. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch nette Weggefährten für größere Schulkinder sind, auch wenn sie dazu neigen, gelegentlich etwas unanständig zu sein :-D (es gibt Darstellung von ihnen als verstecktes Fascinum oder wie sie auf vielsagende Weise ihre Tuniken lüpfen). Das ist aber nie grob, sondern einfach nur lustig und gehört zu der besonderen Vorstellung antiker Religionen, körperlich sinnliche Darstellungen würden Schadenszauber abwenden - eigentlich eine sehr entspannende Sache. Nächste Woche sehen wir dann mal, ob sie auch einen Flug nach Hamburg mitmachen. :-)
Cucullati-Stein aus Gloucestershire, 3. Jahrhundert nach Christus



2 Kommentare:

  1. Dein Minischrein ist ja wunderwunderschön!

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  2. Aber wie.
    Und eine wunderbare Idee.
    Von den Genii Cucullati habe ich neulich jemanden behaupten lesen, sie seien phallisch.... Da hat jemand die cuculla nicht erkannt und vermutlich nicht einmal richtig hingeschaut.

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