ch arbeite für ein Einhorn. Das Einhorn dirigiert mit seinem Horn in Deutschland und Österreich, entweder am Theater oder mit freien Orchestern, und trabt gelegentlich auch für Engagements nach Frankreich. Es war sogar schon einmal in Amerika, aber das hat ihm nicht so gut gefallen (weil man da so schwer Bio-Möhren findet). Wie es sich für ein derart elegantes und seltenes Fabeltier gehört, sieht das Einhorn dafür, dass es schon sehr lange lebt, märchenhaft gut und unsterblich jung aus, dementsprechend ist es auch etwas eitel. Weil es so schön ist, sich den ganzen Tag mit schönen Sachen umgibt und nur schöne, ästhetische Dinge tut, scheitert es aber bisweilen ganz schrecklich an den kleinen Problemchen des Alltags. Es ist einfach ein klitzekleines bisschen desorganisiert, dieses Einhorn. Natürlich, es ist ein Künstler, und als Künstler sollte man sich mit Organisation nicht abgeben. Immerhin ist es, obschon etwas altmodisch, ganz gut in der Lage mit seinen feinen, wohlzurechtgefeilten Hufen Mails und SMS zu schreiben, gottseidank. Sagt es also eines Tages bei einem unserer Arbeitstreffen:
"Ich bin gerade echt verzweifelt, weil ich morgen früh ans andere Ende des Königreich galoppieren muss, aber eigentlich noch Noten einrichten soll. Würdest du dir denn zutrauen, für ein Bach-Konzert und eine Mendelssohn-Sinfonie meine Partitureinrichtung in die einzelnen Streicherstimmen zu übertragen? Sag ruhig nein, wenns nicht geht."
Sag ich: "Liebes Einhorn, ich habe eine musische Ausbildung, spiele selber in einem Orchester und finde mich in Partituren gut zurecht. Das ist kein Problem."
Das Einhorn: "Neiin, stimmt das?! Da ergeben sich ja ganz neue Möglichkeiten für mich! Du bist meine Rettung! Ich bringe dir die Noten heute abend nach deiner Arbeit vorbei. Um sieben, ja? Und dann müsstest du dich nur ein klein bisschen beeilen, weil ich das Ganze schon etwas zu lange von den Bremer Stadtmusikanten ausgeliehen habe."
19:45 Uhr. Ich simse: "Liebes Einhorn, soll ich die Noten noch entgegennehmen oder hat sich das erledigt?"
Das Einhorn: "Nein, doch, natürlich, unbedingt! Ich bin nur mit dem Einrichten noch nicht ganz fertig. Das kann jetzt noch bis halb elf dauern, tut mir sooo leid! Ich hoffe das macht dir nichts?"
"Natürlich nicht. Warte, anbei noch meine Adresse."
Um halb elf stelle ich mich vorsichtshalber nach unten an die Straße, um das Einhorn zu erwarten, bevor es womöglich zehn mal an meinem Haus vorbeiläuft und anschließend von skrupellosen Pferdemetzgern entführt wird. Es wird elf. Am klaren Oktoberhimmel blinken die Sterne zwischen Nachtgewölk. Der Mond steht milde über meinem Haus. Ich sage mir alle Mondgedichte auf, die ich jemals auswendig gelernt habe. Drei Passanten fragen mich, ob ich mich ausgesperrt habe. Ich habe ein nettes Gespräch mit dem heimkehrenden jungen Nachbarn von nebenan. Er sagt, man solle sich, um gegen das Aussperren gewappnet zu sein, einen Zweitschlüssel aus einer Cola-Dose ausschneiden.
Um halb zwöf ruft das Einhorn an:
"Oh Gott, jetzt wollte ich schon los und seh gerade, dass ich einen ganzen Part in den Bratschen vergessen habe. Jetzt brauch ich nochmal eine halbe Stunde! Es tut mir soooo leid!"
Kein Problem, liebes Einhorn, ich steh hier nur schon eine Stunde und muss morgen früh zur Arbeit. Wenn es genehm ist, gehe ich jetzt nach oben und mach mir einen Ingwertee.
Mitternacht zieht vorüber. Um halb eins ruft das Einhorn wieder an, im Hintergrund hört man nun ansteigendes Hufgeklapper:
"So, jetzt bin ich aber unterwegs. Wo wohnst du nochmal?"
"Ich hatte dir doch meine Adresse durchgegeben, damit du vorher bei GoogleMaps nachsehen kannst."
"Oh, das hab ich irgendwie versäumt. Ähm, jetzt bin ich schon beim Friedhof. Wenn ich an der Münchner Freiheit ankomme, ist das schon zu weit?"
Ich lotse das Einhorn irgendwie in meine Straße, notiere mir geistig, ihm zu Weihnachten ein Navigationsgerät zu schenken, und gehe dann nach unten. Nach fünf Minuten brettert es an den Gehweg und kommt mir mit einem Stapel Papier im rosigen Maul entgegen.
"Ach, du Gute, ich dachte schon, jetzt ist sie bestimmt schlafen gegangen und redet nie wieder ein Wort mit mir. Also hier der Bach und hier der Mendelssohn. Einfach die Dynamik und die Striche übernehmen. Vom Mendelssohn müsstest du dann je eine Stimmkopie nach XY schicken, und dann den ganzen Packen zurück nach Bremen."
Ich blättere kurz durch den Stapel.
"Vom Mendelssohn ist ja nur die Partitur da."
Das Einhorn wiehert entgeistert.
"Nein! Echt? Oh Gott, ich habe die Stimmen daheim liegen gelassen!!! Warte hier, ich bin in zehn Minuten wieder da! Muss nur einmal über den Englischen Garten hüpfen, geht ganz schnell!"
Und schon ist es davongeflitzt. Ich sehe zum Mond hinauf, der zuckt nur mit den Wolkenachseln und zieht über den Dachgiebel davon. Also gehe ich wieder nach oben und mache mir noch einen Ingwertee.
Kurz nach eins ist das Einhorn wieder da.
"Jetzt ist aber alles komplett. Guck mal, ich hab hier sogar noch so einen Brief vom Bremer Notenarchivar gefunden mit der genauen Adresse zum Zurückschicken."
Ich frage mich, ob ich ihm dafür die Kruppe tätscheln soll, weil es so stolz dreinblickt, und studiere kurz das Schreiben. Es lautet:
"Sehr geehrtes Einhorn, anbei wie gewünscht das Notenmaterial zur Einrichtung. Wir bitten aufgrund von Eigenbedarf für ein Konzert Mitte Oktober um Rückgabe bis allerspätestens 20. September. Gez. der Hahn, Notenarchivar der Bremer Stadtmusikanten"
Ich hebe ruckartig den Kopf. Das Einhorn scharrt etwas betreten mit dem Huf.
"Wir haben bereits Anfang Oktober", sage ich.
"Ja, in der Tat. Du müsstest dann einen gaaaanz netten Entschuldigungsbrief an den Hahn dazulegen, ja? Meine Güte, ich bin dir so dankbar! Das hat mich echt gerettet! So, und jetzt darfst du schlaaafen!"
Sprachs, wirft sich herum, und prescht Richtung Leopoldstraße davon. Ich horche auf das verklingende Hufgeklapper, bis es wieder still ist. Eine Turmuhr schlägt viertel nach eins.
"Wenn das so weitergeht..." murmle ich zum Polarstern. Der schweigt erhaben.